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WAZ, 22. August 2005

Kunterbunte Wunderwelt

Die Sonne scheint auf Heines Wintermärchen, mit Kreide auf Asphalt gemalt. Die Romantik liegt dem Volk zu Füßen beim "Fest" zur Eröffnung der Ruhr Triennale.


Bochum. Wir warten auf ein Wunder. "Das Wunder von Bochum beginnt um 17 Uhr", hatte es geheißen, und jetzt verspätet es sich auf dem Gelände der Jahrhunderthalle. "Vielleicht sind wir hier an der falschen Stelle", sagt eine Frau. Ein Gedanke, den hunderte haben mögen an diesem Ort, an dem es hier Musik gibt und da Kinderbespaßung, hier eine Talkrunde, dort Stelzenläufer, Feuerzauber. Hier Absurdes, Komisches, da Tiefsinniges, Berührendes. Nur ein Wunder kann uns helfen, da nichts zu verpassen. Und deshalb warten wir hier nun, an einer Treppe mit rotem Teppich.

Bis, endlich, das Team "Wunder von Bochum Geheimagentur" unwahrscheinlich loslegt, die Wundertonnen öffnet und die gläubige Gemeinde hinauf treibt zum Gotteshaus aus aufblasbarem Plastik: ein Kirchenschiff mit dem Geruch eines Schlauchbootes. Denn dort wird euch gezeigt werden ein Video mit allen Wundern, die die Agentur gesammelt hat. Darunter so Wundersames wie ein Kaugummiautomat, der Geld ausspuckt, wenn man keines hineinwirft.

Damit könnte man prima eine kleine Einkaufstour machen, nur: Reverend Billy und The Church of Stop Shopping predigen Anderes. Lautstark, mit viel Gesang und "Yeah" und "Thank you". Seine Predigt ist zu hören bis weit in den Schubert-Hain hinein, einem Birkenwäldchen, in dem das ChorWerk Ruhr singt und Gedichte auf den Bäumen wachsen: wieder Heine, der die dummen den schlauen Mädchen vorzieht. Hatte er je ein Date in einer Shoppingmall?

Mit dem Kleingeld könnte man auch prima eine Stärkung erstehen: Die Triennale passt sich ja leider preislich längst der europäischen Festivallandschaft an. Und ist doch so ganz anders, denn kaum irgendwo dürfte man diese Mischung finden: das Glas Weißwein zur Pommes im Esspapier-Schälchen, die pinkfarbene Eiskugel vor dem Hintergrund eines schwarzen Anzugs, und der sitzt neben dem bunten Blouson eines Rentners. Ein Fest fürs Volk.

Viele sind mit Plastiktüten unterwegs, aber das ist nicht sozialer Rand, sondern wieder Kunst: vom Volk. Und so ziehen zwei Frauen aus Bochum mit dem befehlshabenden Radio am Ohr übers Gelände, tragen tapfer die Tüten: "Da sind Konfetti drin#1#20" sagt eine, und die andere fragt: "Wann ist eigentlich der Biolek?"
Jetzt. Aber die Frauen haben ja die verpflichtenden Tüten, sind Teil eines "Radioballetts". Zu blöd. Sie hätten aber ohnehin keine Chance gehabt; der Saal in der Jahrhunderthalle ist hoffnungslos überfüllt. "Ich begrüße auch die Leute dort hinten", sagt Ruhr Triennale-Chef Jürgen Flimm, "die stehen da bis Duisburg, bis Holland, ein internationales Fest ist das hier!" Humor fürs Volk.

Den "Prof. Dr." Biolek hat er geladen zur Applausschule, und das wäre eine Geschichte für sich, wie dies komische Duo sein Publikum geleitet vom "höflichen Begrüßungsapplaus" über verachtungsvollste Buhrufe bis hin zum tobenden, jubelnden "Triennale-Applaus". Wir wollen dies dem Festival herzlich wünschen. Und üben schon fleißig bei Altmeisterin Patti Smith, die ein Herz hat mit dem Volk, das zahlreich und immer zahlreicher draußen steht auf dem Vorplatz der Halle: Ich singe gleich, sagt sie, ihr könnt das hier auf der Leinwand sehen.

Das Volk ist selig. Denn dies ist eine Nacht für die Liebenden, für Romantiker. Dies ist eine Mondnacht, wie von Eichendorff besungen: "Es war, als hätt´ der Himmel/ die Erde still geküsst. . ."

Von Britta Heidemann

 

 

Westfälische Rundschau, 22. August 2005

Furioser Start in die zweite RuhrTriennale

Bochum. Von der Stahltreppe juchzte ein Jodler, Trommel und Alpenhorn klangen am Boden, aus der Luft ertönten kultiviert-schräge Bläser: Die RuhrTriennale eröffnete am Samstag an der Jahrhunderthalle mit einer Zelebration der Vielfalt.

"Nirgendwo gibt es eine grundgesetzlich verankerte Freiheit des Applaus", leitete Intendant Jürgen Flimm verschmitzt seine Applausschule mit Alfred Biolek ein, einer der dicht gedrängten Programmpunkte zum Start der zweiten RuhrTriennale: Fulminant, anders lässt sich die Mischung aus Musik, Kabarett, Theater, Aktionskunst und Diskussionen nicht beschreiben, die gratis auf sieben Bühnen Kulturanspruch und Kinderspaß zusammenbrachte. Flimm und der eher zurückhaltende Biolek verleiteten das große Publikum zu "Mitleid-Bravos", einem "Ich freu mich auf mein Bier"-Klatschen, dem Orkan der Verachtung inklusive Saalschlacht und frenetischen standing ovations bei dem, was sonst?, "Triennale-Applaus".

Im Triennale-Querschnitt sang das Ensemble des Kinderstücks "Das Märchen vom Schwamm": "Wir sind besser als normal, wir sind sensational", während der dickbauchige Schwamm sich auf die Suche nach seinem Märchen machte, nachdem Hans-Christian Andersen ihn 200 Jahre lang in seinem Badewasser aufquellen ließ. Großen Anklang fand auch das von Moritz Eggert komponierte Fußballoratorium "Die Tiefe des Raumes": Höchst ungewöhnlich, wie Bariton Thomas E. Bauer als Rundfunkjournalist in klassisch anmutendem Gesang fast erotisch-schwärmerisch Texte wie "KSC, FCK, Hertha, Arminia" oder "Sie schießen aus allen Rohren" intonierte. Stimmungsvoll das alpine Spiel "Steine und Herzen": Mit gebeugtem Kopf besang Schauspieler Hans Michael Rehberg die dahinfließende Zeit, begleitet von mal melancholisch-melodiösen Weisen, dann von verwegen-hektischen Passagen der österreichischen Band "Franui".

Draußen derweil führte jeder Schritt zu neuer Kunst: Auf den Stahltreppen der Jahrhunderthalle sang das ChorWerk Ruhr Brahms, in einem Zelt deklamierte Kabarettist Richard Rogler die Regelung der neuen NRW-Regierung zur Öffnung der Biergärten als beste Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit.
Die Agenten der Wunderannahmestelle Bochum öffneten Wunderaltäre, kürten nach 20 Tagen Suche (WR berichtete) sechs Wundersame, wie etwa den "Kassierer"-Sänger Wolfgang Wendland oder die Opel-Streikenden von 2004, und stimmten vor einem Wunschbrunnen einen Bittgesang für noch unerfüllte Wünsche wie Gelddrucker für alle oder Weltfrieden an.

Schließlich versammelten sich unter dem Sternenhimmel zahlreiche Menschen für die stimmungsvolle Übertragung des Patti Smiths Konzertes. Das Finale: Ein Feuerwerk und die brisante musikalische Zusammenkunft von Provokateur Schorsch Kamerun ("Wenn ihr wollt, brennt das Zelt ab") und der Wiener Jazz-Combo "Gansch & Roses".
RuhrTriennale bis zum 16. Oktober: www.ruhrtriennale.de

Von Nadine Albach